Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse - Alexander von Humboldt

Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse

von Alexander von Humboldt

  • Veröffentlichungsdatum: 2021-01-24
  • Genre: Geowissenschaften

Beschreibung

Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht, oder in seiner Phantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung misst, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt. Ueberall, selbst am beeisten Pol, ertönt die Luft von dem Gesange der Vögel, wie von dem Sumsen schwirrender Insecten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdichteten Dünste schweben, auch die oberen ätherischreinen, sind belebt. Denn so oft man den Rücken der Peruanischen Cordilleren, oder, südlich vom Leman-See, den Gipfel des Weissen-Berges bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, sechsmal höher als der Brocken, sahen wir Schmetterlinge und andere geflügelte Insecten. Wenn auch, von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhige Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte leitet; so beweiset ihr Daseyn doch, dass die biegsamere animalische Schöpfung ausdauert, wo die vegetabilische längst ihre Grenze erreicht hat. Höher, als der Kegelberg von Teneriffa auf den Aetna gethürmt; höher, als alle Gipfel der Andeskette, schwebte oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geiern. Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen Vikunnas, welche gemsenartig und heerdenweise in den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den mächtigen Vogel in diese Region.
Zeigt nun schon das unbewafnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, so enthüllt noch grössere Wunder das bewafnete Auge. Räderthiere, Brachionen, und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die Winde aus den troknenden Gewässern empor. Unbeweglich und in Scheintod versenkt, schweben sie vielleicht jahrelang in den Lüften, bis der Thau sie zur Erde zurükführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen wirbelnden Körper einschliesst, und (wahrscheinlich durch den Lebensstoff, den alles Wasser enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht.
Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen, Insecten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschikt sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen, tragen Winde und geflügelte Insecten über Meer und Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum Leben, verbreitet.