Die Lehre des Tantra unterscheidet sich von den meisten Religionen dadurch, dass sie die polaren Spannungen in der Schöpfung nicht als einen Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel sieht. Sehr wohl ist im Tantra das ethische Verhalten von großer Bedeutung, doch da es keinen persönlichen, richtenden Gott gibt, der in die Schöpfung eingreift, fehlt dem Tantra der Aspekt der Drohung, welcher für viele Menschen für moralisches Verhalten notwendig zu sein scheint.
Was die Allgemeinheit anbelangt, liegen die Religionen mit ihrer ethischen Botschaft richtig. Sie erfüllen damit eine wichtige soziale Aufgabe, verlieren aber zunehmend an Bedeutung. Die Lehre des Tantra ist als erzieherisches System auf der Basis von Belohnung und Bestrafung ungeeignet und kann die Religionen insofern nicht ersetzen. Der Tantra erteilt keine Lebensvorschriften und moralische Denkweisen sind ihm fremd. Es wird zwar der Egoismus abgebaut, jedoch nicht aus ethischen Erwägungen, sondern aus dem Bestreben des Nicht-Anhaftens. Ethik ist im Tantra ein spätes Ergebnis des individuellen Entwicklungsprozesses und entsteht aus dem Erkennen und Erleben der Alleinheit.