"Magst es Kinder-Rache nennen
an des Daseins tiefem Ernst;
wirst das Leben besser kennen,
wenn du uns verstehen lernst."
Aus: Alle Galgenlieder
Christian Morgensterns Galgenlieder zählen zu den verblüffendsten Texten der deutschen Dichtung. Lustvoll bekennen sie sich zu einer Diesseitigkeit fernab des bürgerlichen Moral- und Lebenskodex: ein Knie, ein Mondschaf, ein Seufzer, eine Schilkrökröte und viele andere liebenswert-kuriose Repräsentanten des Konkreten bevölkern das Universum von Morgensterns "Galgenpoetologie" und loten in vergnüglicher Kindersprache die Möglichkeiten poetischer Gestaltungsweise aus. Bei aller vordergründigen Einfachheit nimmt der Ton der Lieder existentielle Züge an, wird zum spielerisch-ernsten Anschreiben gegen das Leben selbst und die ihm inhärente Vergänglichkeit und Schwere.
Die Galgenlieder schreiben die Geschichte der Sehnsucht nach Erkenntnis neu: Kamele, Purzelbäume, Nasobēme und viele weitere Kuriosa werden zu den Leitparadigmen einer "Ästhetik des Einfachen", die zuweilen stumpfsinnig daherkommt, bei genauerem Hinsehen aber eine höchst erheiternde sprachliche und gedankliche Raffinnesse erkennen lässt. Doch nur vordergründig sind die Lieder kindlich-unbeschwert. In den Zwischentönen verbirgt sich eine Grundstimmung, die von einer latenten Verwundbarkeit zeugt und jenseits der Einfachheit des poetischen Vokabulars liegt. Einzig im Galgenhumor ist die Sehnsucht nach Enträtselung zugleich enthalten und gestillt.